Bild und Botschaft in Zeiten des Umbruchs

Dürfen wir Ihnen eine Frage stellen?

Wie viele Bilder haben Sie heute schon gesehen, digital oder gedruckt? Überlegen Sie einen Moment.

Ob Werbeindustrie, öffentlichen Medien oder im Alltag jeden Einzelnen: Bilder entscheiden nach wie vor darüber wie wir denken, fühlen und handeln, insbesondere in Zeiten der sozialen Distanzierung. Denken Sie nur an die letzten Wochen: Welche Bilder haben Ihre Wahrnehmung geprägt?

Zu Beginn der Pandemie führten Bilder von leeren Regalen in den Supermärkten zu panischen Hamsterkäufen. Vor Kurzem waren es die Aufnahmen, die die Ermordung des Afroamerikaners George Floyd zeigten, die die ganze Welt erschütterten. Diese führten zu einer erneuten Protestwelle, der sich alle 50 Staaten der USA und viele Länder weltweit anschlossen.

Diese Wirkung würde kaum eine bildlose Publikation erreichen. Warum eigentlich?

Ein Grund ist die scheinbar einfache Verständlichkeit. Ein Bild sagt mehr als tausend Worte. Die Bildsprache ist international. Wir werden von Bildern emotional schneller berührt und stärker mitgerissen. Werbung und Propaganda wussten schon immer um die Macht der Bilder. Beide funktionieren ähnlich - durch die konsequente Wiederholung von Bildern, die entsprechend der erwünschten Wirkung manipuliert werden.

In ferner Vergangenheit, als die Lesefähigkeit noch ein Privileg war, sorgte das Bilderrepertoire des Christentums für die Weltanschauung jedes einzelnen. Das war nicht kompliziert, da es ausschließlich zwei Richtungen kannte.  Das Gute stand dem Bösen gegenüber. Das Gute war göttlichen Ursprungs, himmlisch, wunderschön, herrlich und hoffnungsvoll. Das Böse entsprang dem Teuflischen, war grausam, hässlich, verzerrt und angsteinflößend. Dies wurde den Gläubigen in Form von eindrucksvollen Kunstwerken vor Augen geführt. Auf einer Seite ist die überirdische Schönheit des Himmlischen, auf der anderen das Grauen der Hölle. Es erinnert ein wenig an die sozialen Medien heute. Auf der einen Seite haben wir die geschönten Aufnahmen perfekter Körper, idealer Landschaften und endloser Urlaube. Und auf der anderen Seite das Leid und Elend der Kriegsgebiete, Hungersnöte und die leblosen Körper der Ertrunkenen.

Der Augustinermönch und große Reformator Martin Luther (1483 – 1546) war durch und durch ein Stratege. Er war bei Weitem nicht der Erste, der die Missstände der Katholischen Kirche erkannte, sein Glück war es jedoch, den richtigen Künstler an seiner Seite zu haben. Als einer der wichtigsten deutschen Künstler der Renaissance war Lucas Cranach der Ältere (1472 – 1553) für die Kirchenreformation nicht minder verantwortlich als der große Reformator. Mit einem Augenzwinkern kann man Cranach heute als den Erfinder von Instagram bezeichnen. Das Prinzip, nach dem heutige soziale Medien immer noch funktionieren, erfand er bereits vor 500 Jahren. Er ließ in seiner großen Werkstatt ein und dasselbe Bild tausendfach reproduzieren, verbreitete damit die Thesen der Reformation und steigerte die Bekanntheit Luthers ins Unermessliche. Luthers Porträts aus verschiedenen Jahrzehnten kamen ausschließlich aus der Werkstatt Cranachs, selbst nach dem Tod des Reformators. Luthers Gesicht kommt auch heute Millionen von Menschen auf der ganzen Welt vertraut vor, da sie alle nach dem gleichen Muster entstanden sind.

Zurück in die Gegenwart und unserer anfänglichen Frage:

Was macht es mit unserer Wahrnehmung, wenn wir mit emotional aufgeladenen Bildern konfrontiert werden? Wir gewöhnen uns an sie. Während unsere Vorfahren vor 500 Jahren beim bloßen Anblick von den Höllendarstellungen in Schrecken und Ehrfurcht verfielen, scheint in unserer visuell überreizten Gesellschaft eher das Gegenteil einzutreten. Das Gezeigte muss die Superlative übersteigern um uns zu erreichen. Aber selbst dann ist die Wirkung von kurzer Dauer. Nach dem ersten Schock setzt eine Art Gleichgültigkeit ein, wir stumpfen ab.

Wir lieben Bilder. Wir wollen und können unsere Welt nicht ohne vorstellen. Bloß wie viele davon dürfen wir uns zumuten, um lebendig, mitfühlend, aufnahmefähig, kurz Mensch zu bleiben?

(AS/KC)

Kunst und Kaviar