Breaking the Canon – Wie man die Kunst der Renaissance und des Barocks queert

In einer Welt, in der die Rechte der queeren Communitys weltweit stark bedroht und beschnitten werden, ist es an der Zeit im Rahmen der Kunst, um über diese Themen zu sprechen. Für uns ist die Kunst ein sicherer Rahmen, um über unsichere Themen zu sprechen und aus diesem Grund, freuen wir uns umso mehr, dass am 15. Dezember die Ausstellung “Alte Meister queer gelesen” in der Gemäldgalerie Alte Meister im Schloss Wilhelmshöhe eröffnet.


Zu diesem Anlass haben wir den Kunsthistoriker Kero Fichter gebeten einen Gastbeitrag zu diesem spannenden Thema zu schreiben, was er glücklicherweise getan hat.


Wir bedanken uns bei Kero und wünschen viel Spaß beim Lesen.


Lucas Cranach der Ältere, Herkules und Omphale, 1537, Öl auf Holz, 82 x 118,9 cm, Anton Ulrich Museum Braunschweig


In einer Welt, in der RuPaul's Drag Race Rekordquoten verzeichnet, die Zahl der CSD Veranstaltungen nie höher war, Transpersonen wie Kim Petras die internationale Musikszene aufmischen oder wie Tessa Ganserer die Politik ihrer Länder mitbestimmen, bekommt man leicht den Eindruck, dass wir im Westen auf einem Höhepunkt gesellschaftlicher Akzeptanz für LGBTIQA* angekommen sind. So wünschenswert diese Vorstellung ist, so krass steht sie doch im Widerspruch zu der massiv zunehmenden Hasskriminalität und Diskriminierung, denen queere Menschen im Alltag ausgesetzt sind. Denn tatsächlich nimmt die öffentliche Zustimmung zur Gleichberechtigung queerer Lebensweisen ab, und das wohlgemerkt nicht nur in Ländern mit rechten Regierungen wie Ungarn oder Polen. Statistiken des Verbands der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt (VBRG) zeigen für Deutschland allein im Jahr 2022 eine Verdopplung (!) der Angriffe auf queere Minderheiten im Vergleich zum Vorjahr. In den öffentlichen Medien wird meist nur in Extremfällen darüber berichtet, wie etwa dem Mord am Transmann Malte C. auf dem CSD Münster letzten Jahres. Zu anderen Übergriffen muss man von Betroffenen betriebene Formate wie queer.de konsultieren, die wöchentlich hierzu Meldung geben. Insbesondere rechte und konservative Parteien wie die AFD oder die Republikaner in den USA haben queere Personen zur Zielscheibe ihrer Hetzkampagnen erkoren, als vermeintliche Gefahr für das klassische Familienmodel und die aus ihrer Sicht damit verbundene gesellschaftliche Stabilität. Die Angst vor allem, was sich jenseits der „Norm“ für Geschlecht und Sexualität befindet, ist offensichtlich nach wie vor nicht nur weitverbreitet, sondern auch tief sitzend.

 

 

Ein Blick auf die Kunst veranschaulicht, wie variabel oder konstant gesellschaftliche Vorstellungen von Geschlecht und Sexualität waren und wie sie sich im Laufe der Zeit veränderten oder fortsetzten. Ebenso bestätigt sie, dass ein Abweichen von der Norm sozialen Ausschluss nach sich zog, was sich in Bildern vor allem in Form von Spott und Häme manifestiert. Anhand zweier Themen wollen wir einen queeren Blick auf die Bildwelt der Renaissance und des Barocks (ca. 1500-1800) werfen, um eine Idee von Kontinuität und Wandel von „Mann- und Frausein“ zu bekommen.

Doch wofür genau steht das englische Lehnwort „queer“ eigentlich? Oft wird es als Synonym für homo- und transsexuell verstanden, und auch wenn es diese Kategorien miteinbezieht, ist es doch viel weitgreifender. Ursprünglich „eigenartig, komisch“ bedeutend, wurde queer ab dem späten 19. Jahrhundert zu einem Schimpfwort der Mehrheitsgesellschaft für Homosexuelle, die, wie es marginalisierte Gruppen oft tun, schließlich den Spieß umdrehten und queer zu einer Selbstbezeichnung als Ausdruck von Selbstermächtigung im Kampf für ihre Freiheit deklarierten. Mittlerweile ist queer zu einem Sammelbegriff geworden, der alle Formen sexueller und geschlechtlicher Identität abdeckt, die in irgend einer weise, und sei sie noch so klein, von der heterosexuellen, cisgeschlechtlichen Norm mit ihrer klaren Rollenverteilung abweicht. Neben homosexuellen und transgeschlechtlichen Personen sind das auch nicht-binäre, intersexuelle und asexuelle Menschen...oder auch andere, deren Verhaltensweise nicht in das eiserne Mieder der Geschlechterrollen passt. Kann ein cis-hetero Paar queer sein? Sicher, wenn z.B. der Mann auf jegliche Konvention pfeift und sich schminkt und Kleidung trägt, die traditionell Frauen zugeschrieben wird. Oder die Frau beim Penetrationssex durch Umschnalldildo den aktiven Part einnimmt. Abweichung und/oder Umkehrung - der Begriff queer ist im Grunde genommen simpel, wenn man bereit ist, ein klares Schubladendenken, das ja gerade die deutsche Mentalität auszeichnet, über Bord zu werfen. Manche*r mag an dieser Definition eine gewisse Beliebigkeit kritisieren, aber tatsächlich ermöglicht die Ungenauigkeit des Wortes eine offene Herangehensweise an die Vielschichtigkeit von Sexualität und Geschlecht.

Und genau so sollten wir uns Kunstwerken nähern, wenn wir sie queeren möchten: wo werden unsere modernen „Regeln“ gebrochen und/oder in Frage gestellt? Und wo liegt die Relevanz dieser jahrhundertealten Objekte und ihrer Geschichten für uns heute, insbesondere in Bezug auf die steigende Feindseligkeit gegen queere Menschen?

  

Um an das genannte Beispiel des queeren cis-hetero Paares anzuschließen, eröffne ich das Projekt Queering the Renaissance and Baroque mit einem der populärsten Bildmotiven, das die klassische Rollenverteilung von Mann und Frau verhandelt. Hierbei haben wir es mit der Geschichte von Herkules und Omphale aus der griechisch-römischen Mythologie zu tun, die von unzähligen Künstler*innen in diversen Medien von Malerei bis Graphik und Skulptur aufgegriffen wurde. Wie so viele Sagenstoffe ist der exakte Ablauf der Handlung je nach Quelle unterschiedlich, geht im groben jedoch so: als Strafe für eine Mordtat muss der Held Herkules ein bis drei Jahre der Omphale dienen, die über das Königreich Lydien in der heutigen Türkei herrscht. Diese macht sich einen Spaß daraus, Herkules Waffe, die Keule, und sein Löwenfell, welches er als Zeichen des Triumphs über das Tier im Kampf mit sich trägt, abzunehmen und selber anzulegen. Den Helden lässt sie Kleider anziehen und sogenannte „weibliche“ Hausarbeiten verrichten. Aus Liebe lässt Herkules alles bereitwillig über sich ergehen. Das wir es hier mit einer klaren Umkehrung der traditionellen binären Geschlechterrollen von Frau und Mann zu tun haben, ist offensichtlich.

Lucas Cranach der Ältere: Herkules und Omphale, 1535, Öl auf Holz, 82 x 118, cm, Statens Museum for Kunst Kopenhagen

Der deutsche Maler und Graphiker Lucas Cranach der Ältere (1472-1553) nahm sich des Sujets in mehreren Gemälden an, die alle auf ähnliche Weise Herkules darstellen, wie er von Omphale und ihren Dienerinnen eine Haube über den Kopf gezogen und einen Spinnrocken als Symbol weiblicher Arbeit in die Hand gedrückt bekommt. In den meisten Tafeln sieht er die Frauen schmachtend an, die ihm wiederum teilweise mit spöttisch-zynischem Blick antworten. Anscheinend machen sich diese über seine Verweiblichung lustig, was durch seinen Blick, der etwas leicht Dümmliches ausstrahlt, betont wird.

In allen Gemälden warnt Cranach außerdem explizit die männlichen Betrachter im Hintergrund mit einer lateinischen Inschrift vor den Gefahren sexueller Begierde: durch die Verführungskunst von Frauen verlören Männer ihren Verstand und damit ihre Vormachtstellung in der Gesellschaft gegenüber diesen. Das Ergebnis für Cranach und seine Zeitgenossen ist Chaos.



Hans Baldung Grien: Herkules und Omphale, 1522, Feder auf Papier, 27,2 × 39,2 cm, École Beaux Arts Paris

Cranachs Kollege Hans Baldung Grien (1484/85-1545) erörterte diese männliche Angst vor Kontrollverlust und die daraus resultierende Rollenumkehrung in einer Zeichnung. Hier bekommt ein nackter Herkules von Omphale, die sich mit Löwenfell um die Schultern  geschlungen auf seiner Keule stützt, den Spinnrocken entgegengehalten. Im Unterschied zu Cranach nimmt Baldungs Protagonist diesen jedoch nicht bereitwillig an, sondern zögert...ist sich dieser Herkules dem Ausgang eines Rollentauschs nur allzu bewusst? Das finstere Lächeln Omphales verheißt nichts gutes, und die lateinische Tafel am Baumstamm enthält eine ähnliche Warnung wie Cranachs.

In der deutschen Renaissance diente das Motiv von Herkules und Omphale offenbar zur Diffamierung gegen Männer, die aufgrund ungezügelten sexuellen Verlangens von Frauen über den Tisch gezogen und ihrer Herrschaft verlustig gehen. Insbesondere Cranachs humoristisch angehauchte Gemälde senden eine klare Botschaft: einen Mann in „Frauenkleidung“ kann man nicht Ernst nehmen. Im Prinzip soll der Rollentausch die klassische Rollenverteilung bestätigen, denn nur wenn ein Mann die vorgegeben Verhaltensweisen seines Geschlecht erfüllt, ist er ein „echter“ Mann und kann das Patriarchat fortsetzen.

Genau hier können wir ansetzen, wenn wir eine Brücke der Thematik zu heute bauen wollen: nicht-binäre und transgeschlechtliche Personen werden immer wieder verhöhnt und ausgelacht, weil sie dem an sie von der Mehrheitsgesellschaft gerichteten Normenkodex nicht entsprechen. Und wie Cranach das Nichteinhalten von Geschlechterrollen ins Lächerliche zieht und Baldung eine Aura des Gefährlichen heraufbeschwört, so ähnlich gehen Rechtspopulisten wie die AFD in der Grundstruktur ihrer Bildsprache vor, wenn sie in Plakaten mit einer als Dragqueen getarnten Person vor vermeintlicher Pädosexualität von queeren Menschen „warnen“ möchten .

Propagandaplakat der AfD

 Ein weiteres Sujet, welches sich ideal für eine queere Lesart im Kontext von Geschlechternormen eignet, ist die Kleidermode im 18. Jahrhundert. Sicher fragen sich manche Leser*innen jetzt, inwiefern dies ein kunstgeschichtliches Thema ist, scheint doch Kleidung vielmehr in die kulturgeschichtliche Sphäre zu gehören. Doch liefern Bilder neben den erhaltenen Kostüme eine wichtige Quelle für unser Wissen über diese und zeigen darüber hinaus, wie diese authentisch getragen wurden, was die Originale nicht mehr vermögen.

In unserer modernen Kleidung im westlichen Kulturkreis verläuft nach wie vor im Mainstream eine klare Trennlinie zwischen den binären Geschlechtern. Wenn nicht-binäre und schwule Sänger*innen wie Sam Smith oder Lil Nas X diese brechen, indem sie Make-Up und pinke Kleidung mit Strass tragen, so handelt es sich um einzelne Prominente, die dennoch alles andere als sicher vor Shitstorms oder tätlichen Angriffen sind. Queere Privatpersonen ohne eine Riege an Security müssen es sich noch genauer überlegen, ob und wo sie in der Öffentlichkeit so auftreten können.

Die Welt des Rokoko zeigt allerdings, dass es nicht immer so solide Grenzen für Mode gegeben hat. Die damalige Kleidung war wesentlich einheitlicher, als sie heute ist. Zwar waren weit ausladende Reifröcke mit Schleppen Frauen vorbehalten, während Kniehose, Weste und Herrenrock Männern zugeschrieben wurden. Doch besaßen beide Geschlechter die gleiche Vorliebe für bunte Farben und Accessoires wie Schleifen, Spitzen, Rüschen und Juwelen, die wir heute zu diesem Ausmaß nicht teilen. In Jean-François de Troys (1679-1752) Gemäde Die Liebeserklärung (Abb. 6) sehen wir, wie eine höfische Gesellschaft dies deutlich zur Schau trägt. Darüber hinaus schminkten sich sowohl die Herren wie auch Damen mit Rouge und anderen Kosmetika– heute vor allem ein Ausdruck queerer Geschlechtsidentität im Westen, damals Standard bei Hofe. Beide Geschlechter verwendeten auch eifrig die berühmten Schönheitspflästerchen aus Samt und ließen sich ihre Frisuren weiß und grau pudern. Betrachtet man zusätzlich die Herrenporträts der Zeit, so fallen gewisse Gestiken auf, die man heute bei einem Mann vorschnell als schwul deuten würde. Wenn wir uns beispielsweise das Bildnis des Francis Greville, Earl of Warwick von Jean Marc Nattier (1685-1766) ansehen (Abb. 7), so fällt der leicht abgespreizte kleine Finger der rechten Hand (Betrachtendenperspektive) auf. Die auf uns künstlich wirkende Haltung der Finger war ein Zeichen adeliger Kultiviertheit und Eleganz, die in der Darstellung von Männern wie auch Frauen angewendet wurde. Sie war ein klassistisches Standardrepertoire und kein vermeintlicher Geheimcodex für schwule Subkultur, wie wir es vielleicht heute interpretieren würden.

Jean-Francois de Troy: Die Liebeserklärung, 1731, Öl auf Leinwand, 71 x 91 cm, Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg

Das 18. Jahrhunderts beweist unverkennbar, dass Vorstellungen von Kleidung für Geschlechtszugehörigkeit immer einem kulturellen und historischen Wandel unterzogen sind. Erst im 19. Jahrhundert entwickelte sich eine klarere Trennung der binären Geschlechter in diesem Bereich, wie man anhand des Siegeszugs des einheitlichen Schwarz-weiß für Herrenanzüge ohne überladene Accessoires gut nachvollziehen kann.

Jean Marc Nattier: Porträt des Francis Greville, Öl auf Leinwand, 1741, 138 x 107 cm, Privatsammlung

 Es stellt sich noch die Frage, wie Kunstmuseen bei einer Queerung von Ausstellungen vorgehen sollten. Größere Ausstellungen zu dem Thema in der Welt der alten Kunst hat es bisher kaum gegeben, die sich dann auch meist dezidiert auf Homosexualität und Transgeschlechtlichkeit bezogen. Dabei haben die hier besprochenen Beispiele gezeigt, das eine queere Lesart weit darüber hinaus gehen kann und auch sollte. Es gilt, die Normen von Sexualität und Geschlecht, wie wir sie als gegeben und „natürlich“ nehmen, in ihren Grundfesten zu hinterfragen und die Machtverhältnisse, die auf dem Patriarchat aufbauen, kritisch zu beleuchten.

In Anbetracht der akuten Situation für queere Minderheiten sehe ich die Häuser auch in der Verantwortung, auf die gravierenden Probleme gemäß einer Sensibilisierung ihres Publikums einzugehen: es sollten nicht lediglich die zeitgenössischen Kontexte historischer Werke untersucht, sondern Parallelen zu heutigen Debatten gezogen werden. Denn das Thema ist politisch zu aufgeheizt, um es bei einer Präsentation schöner Bilder zu belassen. Hierfür ist es essentiell, partizipativ Betroffene einzubinden und deren moderne Perspektive mit der Vergangenheit in einen Diskurs zu setzen. Nur so können wir die Entwicklung bzw. Stagnierung von Geschlecht und Sexualität begreifen.

Kero Fichter ist Kunsthistoriker und hat an den Universitäten von Aberdeen, Glasgow und Wien studiert.

Sein Forschungsinteresse liegt im Spätmittelalter, Renaissance und dem späten 19. und frühen 20. Jh., mit besonderer Berücksichtigung um Themen von Sexualität, Geschlechter Beziehungen und Körperbilder.

Anfragen bitte über kero.fichter@web.de.

Kunst und Kaviar