Ein Mythos bekommt Risse
Es gibt Museen und Ausstellungen, die von einem Glanz, einer Aura oder gar einem Mythos umgeben sind. Die documenta ist eine von ihnen. Erbaut aus dem Schutt einer Stadt, die zehn Jahre vorher teilweise zu 80% zerstört wurde, geplant und erschaffen durch die Idee eines Mannes, des Kasseler Künstlers Arnold Bode.
Seine Vision war es, die als „entartet“ verfemte Kunst, zwei Jahrzehnte später, der breiten Öffentlichkeit zu zeigen. Heute deutet man die erste documenta als eine Art „kultureller Wiedergutmachung“, sowie auch den Versuch an die Kunstgeschichte anzuknüpfen. Über die Jahre wurde die Entstehungsgeschichte der documenta und deren „Macher“ hundertfach erzählt und wurde selbst zum Mythos.
Doch was geschieht, wenn der Mythos Risse bekommt? Was passiert, wenn herauskommt, dass zehn der 21 Mitglieder des ersten documenta Planungs-Teams, Teile der SS oder der NSDAP waren?
Diese und ähnliche Fragen behandelt die Ausstellung „documenta. Politik und Kunst“ im Deutschen Historischen Museum Berlin, die sich intensiv mit den documenta Ausstellungen von eins bis zehn auseinandersetzt. Die von dem interdisziplinären Kurator:innenteam Dr. Lars Bang Larsen, Prof. Dr. Julia Voss und Prof. Dr. Dorothee Wierling zusammengestallte Schau, liefert einen sehr guten Blick auf den aktuellen Forschungsstand der documenta-Geschichte.
Wir hatten die Freude die Ausstellung schon vor der offiziellen Eröffnung am 18.06.2021 sehen zu dürfen und nennen Ihnen vier Gründe, wieso sich ein Besuch im Deutschen Historischen Museum Berlin unbedingt lohnt.
1. Die Kunstwerke der ersten Stunde
Es ist bei weitem nicht die erste Ausstellung, die sich der Geschichte der documenta widmet. Viele Ausstellungsmacher:innen versuchten sich daran, die Unmengen an Wissen und Werken anschaulich zu präsentieren, doch scheitern viele an der Balance zwischen Schrift und Bild. Die Ausstellung im Deutschen Historischen Museum überrascht durch die unglaubliche Dichte an (großformatigen) Werken. Die Arbeiten, die man gewöhnlich nur aus den Katalogen zu den ersten Ausstellungen kennt, begegnen einem hier in einer gelungenen Zusammenstellung. So trifft man die Kniende von Lehmbruck, die zum Leitbild der allerersten documenta wurde. Besondere Beachtung finden hier die Werke des deutsch-jüdischen Künstlers Rudolf Levy, der es zunächst auf die Ausstellungsliste der ersten Ausstellung geschafft hatte, letztendlich aber doch nicht gezeigt wurde.
2. Die Person und Rolle des Werner Haftmann
Werner Haftmann gehört zu den wohl umstrittensten Persönlichkeiten der documenta Geschichte. Als etablierter Kunsthistoriker, genoss er hohes Ansehen und prägte mit seinem Buch Malerei im 20. Jahrhundert (1954) die Geschichte und Entwicklung der Nachkriegskunst in Deutschland und Teilen Europas. In seiner Funktion als Kurator und wissenschaftlicher Berater von Arnold Bode hatte er erheblichen Einfluss auf die Auswahl der Künstler:innen der ersten drei Ausstellungen. Ein besonderer Fokus in der Ausstellung liegt hierbei auf der Verbindung zur NSDAP, der Beziehung zu Adolf Hitler und dem Einfluss dieser Ideologie auf das Kunstverständnis von Haftmann.
Neben der Frage welche Künstler:innen unter Haftmanns Leitung repräsentiert waren, stellen sich die Ausstellungsmacher die wichtige und notwendige Frage, wer oder was nicht gezeigt wurde. So wird auch Künstlern wie Rudolf Levy eine Plattform gegeben, wobei die ausgestellten Werke in Begleitung der Dokumente und Schriftstücke dabei helfen, tiefer in die Materie einzusteigen.
3. Das Politische als Teil der documenta
Obwohl wir seit vielen Jahren in Kassel leben, für die letzte documenta 14 arbeiteten und uns regelmäßig mit der Geschichte der documenta befassen, war uns nicht bewusst, wie groß die Rolle der Politik für die Konzeption und die Auswahl der Künstler:innen war. Es ist bekannt, dass jede documenta auch die politische Landschaft ihrer Zeit spiegelt, doch wie verhielt es sich in der Zeit, in der sich die Besucher:innen zum großen Teil vor abstrakten Werken und „realitätsfernen“ Sujets wiederfanden?
Angefangen von der Entnazifizierung, über die Trennung Deutschlands, bis hin zum Kalten Krieg spielte die Politik stets eine enorme Rolle in der Ausstellungsgestaltung. So zeigt die Schau im Deutschen Historischen Museum wie die ersten vier Ausstellungen von einem großen Schweigen und Verdrängen überschattet wurden, während seit der fünften Ausgabe der Weltausstellung die politische Zerrissenheit sowohl im Kurator:innen-Team, als auch unter den Künstler:innen zu spüren war. So wurden Werke der russischen Realisten aus politischen Gründen verpönt, oder erst gar nicht ins Land gelassen, während einigen Künstler:innen der DDR sogar Spionage nachgesagt wurde.
4. Die Besucher:innen
Jede Ausstellung wird für die Öffentlichkeit gemacht. Die „Besuchendenfrage“ ist daher eine der Wichtigsten. Welche Zielgruppen wollen wir erreichen? Welche sind öfter und welche weniger oft vertreten? Wie soll die Vermittlung der relevanten Inhalte aussehen? Und retrospektiv gesehen: was waren es für Besucher:innen, die da waren? Obwohl die Besucher:innen stets wichtiger Teil der documenta sind, bekommen sie nur selten eine Plattform.
Die Ausstellung im Deutschen Historischen Museum Berlin zeigt sehr anschaulich und stets mit einem leichten Augenzwinkern, wie sich die Frage nach Finanzierung, Vermittlung und dem Umgang mit den unterschiedlichsten Besuchergruppen, durch jede documenta zieht und wie es jeder Ausstellung gelingt, mit ihren eigenen Skandalen, Vermittlungs-Problemen und der stets verlässlichen Empörung der Kassler Bürger:innen umzugehen.
Wir bedanken uns an dieser Stelle beim Deutschen Historischen Museum Berlin für die Einladung, bei Prof. Dr. Julia Voss, Prof. Dr. Dorothee Wierling und Dr. Lars Bang Larsen für die interessanten und unterhaltsamen Führungen und bei Desirée Hennecke für die wundervolle Organisation.
Weitere Informationen zu der Ausstellung finden Sie hier.
Öffnungszeiten: Fr-Mi 10-18 Uhr, Do 10-20 Uhr
Ausstellungsdauer: 18.6.21 bis 09.01.2022
Deutsches Historisches Museum
Pei-Bau
Hinter dem Gießhaus 3, 10117 Berlin
www.dhm.de