Vom Fremdbild zur Eigenstimme: Erzählerinnen in der Kunst der Sinti und Roma
Eine Frage kam neulich bei einem Gespräch auf: „Was meinst du, wären wir mit der Thematik ‚Kunst und Geschichte von Sinti und Roma‘ ohne die documenta fifteen in Berührung gekommen?“ Wahrscheinlich ja, aber so sicher sind wir uns nicht.
Bis zum Frühsommer 2022 gab es für uns, wie für die meisten in unserer Gesellschaft, keine sichtbare Kunst von Sinti und Roma und damit auch keine Kunstschaffenden aus dieser Kultur. In unserem Studium fanden wir keine Erwähnung in Lehrbüchern, keine Veranstaltungen an Universitäten, keine Ausstellungen, keine Namen. Ein blinder Fleck in der europäischen (Kunst-)Geschichte.
Die Suche nach verborgenen Stimmen
Gleich zu Beginn der documenta fifteen mussten wir viel lernen, weil wir verstehen wollten, wie es dazu kam, dass eine ganze Kultur mitten in der Mehrheitsgesellschaft marginalisiert und diskriminiert, gleichzeitig aber totgeschwiegen werden konnte. Eine Kultur, die seit mehr als 500 Jahren existiert und reich an Ausdrucksformen wie Tanz, Musik und bildender Kunst ist. Und doch wurde sie übersehen, ignoriert oder – wenn erwähnt – auf das Fremde, Exotische, Andersartige reduziert. Menschen, die diese Kultur am Leben erhalten, kamen kaum oder gar nicht zu Wort.
Zugegeben, es wäre für uns, studierte Kunsthistorikerinnen, einfacher gewesen, uns mit altbewährten Themen zu beschäftigen. Nochmal den großen Künstlern und wenigen Künstlerinnen zu huldigen, über die „Genies“ zu schreiben und die Bedeutung ihrer Werke zu erklären. Das wäre der einfachere Weg, aber gleichzeitig sind wir als KUNST+kaviar uns unserer Verantwortung bewusst.
Wir haben uns für einen neuen, (noch) holprigen Weg entschieden, einen Weg des Lernens. Und dabei haben uns die Kunstschaffenden selbst an die Hand genommen. Künstler:innen, die Teil der Gemeinschaft der Sinti und Roma sind und uns zutiefst beeindruckt haben, weil sie ihre Geschichten selbst erzählen. Wir haben aufmerksam zugehört und genau hingesehen. Dabei wurde uns bewusst, dass wir oft keine wirkliche Vorstellung davon hatten, worum es geht, oder dass wir weniger vorurteilsfrei waren, als wir dachten
Zwischen Faszination und Klischee
In unserem vorangegangenen Blogbeitrag widmeten wir uns der Kunst von Otto Mueller und deren Herausforderungen, doch was faszinierte Otto Mueller so sehr an der Lebenswelt der Sinti und Roma, dass er sie zu einem zentralen Thema seiner Kunst machte? Diese Frage führt uns direkt in die Ambivalenzen seines Werkes. Mueller, der oft als Außenseiter im deutschen Expressionismus wahrgenommen wurde, sah in der Gemeinschaft der Sinti und Roma offenbar ein Ideal des freien, unangepassten Lebens, das seinem eigenen Lebensentwurf entsprach. Doch wie frei war sein Blick tatsächlich?
Schon während seines Kriegseinsatzes 1917/18 begann Mueller, Szenen aus der Lebenswelt der Sinti und Roma zu zeichnen. Später unternahm er mehrere Reisen nach Osteuropa, um dort zu zeichnen, zu fotografieren und Eindrücke zu sammeln. Doch anstelle authentischer Porträts entstanden oft romantisierte und idealisierte Darstellungen, die bis heute stereotype Bilder reproduzieren. Seine Gemälde zeigen die Gemeinschaft häufig in ärmlichen Zelten, musizierend oder in zerrissener Kleidung. Diese Darstellungen verstärken Vorurteile, statt sie zu hinterfragen, und anonymisieren die dargestellten Personen, denen keine Stimme gegeben wird.
Die Gefahr eines solchen "Blicks auf den Anderen" liegt in der Verfestigung von Klischees und der Reduktion komplexer Realitäten auf einfache Bilder. Muellers Werke zeigen nicht die Stimmen oder Geschichten der porträtierten Menschen, sondern vielmehr eine Projektion seiner eigenen Vorstellungen. Diese Art der Darstellung macht die Menschen zu Objekten eines romantisierenden Blicks, der sie ihrer Individualität beraubt. Besonders problematisch ist die Darstellung von Frauen mit nackter Brust, die im kulturellen Kontext der Sinti und Roma als stark entblößend wahrgenommen wird.
Muellers Werke werfen auch die Frage nach der Verantwortung der Kunst auf. Was passiert, wenn die Perspektive des Künstlers die abgebildeten Menschen auf Rollen festlegt, die weder ihrer Realität entsprechen noch ihre Vielfalt sichtbar machen?
Wichtige Stimmen – Zeitgenössische Künstlerinnen und der Blick auf Identität
Małgorzata Mirga-Tas
Die Erzählerin aus Stoff und Fäden
„Soll ich diesen Rock jemandem schenken, oder kannst du ihn für deine Arbeit gebrauchen?“, fragte Małgorzata Mirga-Tas’ Mutter oft. Diese Frage beschreibt treffend die Arbeitsweise der 1978 in Zakopane geborenen Künstlerin, die Stoffe, Textilien und alltägliche Materialien zu einem zentralen Bestandteil ihrer Kunst macht. Ihre farbenfrohen Patchworks und Collagen entstehen aus Stoffteilen, die oft aus den Kleiderschränken der Abgebildeten stammen und Gebrauchsspuren zeigen. Durch diese Materialien erzählt Mirga-Tas feministische Geschichten über das Leben, die Charaktere und die Sichtweise von Menschen in marginalisierten Gemeinschaften.
Mirga-Tas lebt und arbeitet in einer Roma-Siedlung in Czarna Góra, einer Region in der polnischen Tatra. Hier setzt sie sich sowohl künstlerisch als auch aktivistisch für die Belange der Roma-Communitys ein. In ihren Werken, darunter Collagen und Installationen, finden Szenen des Alltagslebens der Roma Platz: Frauen, Kinder, Tiere und das gemeinschaftliche Leben in Siedlungen. Ihre Arbeiten greifen oft auf Handarbeit zurück, ein Element, das sie symbolisch nutzt, um Verbindungen zu reparieren und Gemeinschaften zu stärken. Mirga-Tas’ künstlerische Praxis verwebt volkstümliche Kunsttraditionen mit professioneller Kunst und schafft eine Versöhnung zwischen beiden Welten.
Die Künstlerin versteht sich selbst als Feministin und vertritt einen Minderheiten-Feminismus, der sich aus den spezifischen Erfahrungen der Roma-Frauen speist. Dieser Ansatz trennt Frauen nicht von ihrem soziokulturellen Hintergrund, sondern bindet sie in einem örtlichen und globalen Kontext ein. Ihre Arbeiten sind somit nicht nur visuell beeindruckend, sondern auch tiefgreifende Reflexionen über Identität, Gemeinschaft und gesellschaftliche Zugehörigkeit. Bei der 59. Venedig Biennale 2022 im polnischen Pavillon präsentierte Mirga-Tas ihre textilen Erkundungen und schuf eine interkulturelle Grammatik, die Fäden von Second-Hand-Gebrauch, Patchwork-Familien und dekolonisierten Vorstellungswelten verwebt. Die sichtbaren Nähte in ihren Arbeiten stehen symbolisch für das Unfertige und Vielfältige, das sie in ihrer Kunst umarmt.
Durch ihre kreative Praxis zeigt Małgorzata Mirga-Tas, wie Kunst soziale, kulturelle und politische Verbindungen schaffen kann. Ihre Werke sind nicht nur ein Spiegel der Roma-Kultur, sondern auch ein kraftvoller Ausdruck von Schwesternschaft, Widerstand und Hoffnung.
Dies sind nur einige der Gründe, warum sie zu unseren absoluten Highlights auf der documenta fifteen gehörte.
Luna De Rosa
Zwischen Identität und Widerstand
Die Aktivistin und multidisziplinäre Künstlerin Luna De Rosa untersucht in ihren Werken den historischen Kontext der Diskriminierung von Roma. In Textilcollagen, die Bildmaterialien mit Fäden und Schrift kontextuell verbinden, stellt sie die Komplexität von religiösen und ethnischen Spannungen sowie anhaltende Konflikte und gesellschaftliche Probleme dar. Die Werke thematisieren Ausgrenzung, Stereotype und anhaltende Missverständnisse aus der Sicht einer Roma. De Rosa hebt die kulturelle Vielfalt und die vielfältigen Identitäten der Roma hervor und feiert deren Widerstandsfähigkeit über Jahrhunderte hinweg.
Ihre großformatigen Werke wie »Antigypsism« bewegen sich zwischen historischer Erzählung und Dokumentation der Geschichte der Roma. Durch den Einsatz unterschiedlicher Medien, darunter Performance, Malerei und Installation, eröffnet sie neue Perspektiven auf die kulturellen und psychologischen Erbschaften der Roma-Communitys. Ihre Arbeiten sind dabei immer auch ein Ausdruck von Resilienz und die Suche nach einer multiplen, irreduziblen Identität, die sich zwischen verschiedenen Welten bewegt.
Vera Lacková
Die Chronistin ungehörter Geschichten
Die 1989 in Tschechien geborene Roma-Filmschaffende Vera Lacková nutzt das Medium Dokumentarfilm, um die Geschichte der Sinti und Roma zu beleuchten, mit einem besonderen Fokus auf Verfolgung und die Verbrechen des Holocaust. 2015 gründete sie ihre Produktionsfirma Media Voice, die sich auf Filmprojekte spezialisiert, die ungehörte Geschichten dieser Gemeinschaft erzählen.
Mit ihren Dokumentationen teilt Lacková intime, private Einblicke in das Leben der Roma und macht so nicht nur gesellschaftliche Probleme wie Ausgrenzung, Vorurteile und Diskriminierung sichtbar, sondern auch die Erfolge und Errungenschaften ihrer Community.
Ihr 50-minütiger Film »O Baripen« erzählt die verflochtene Familiengeschichte zweier kunstschaffender Roma-Frauen: von Alžběta Ferencová und ihrer Urgroßmutter Elena Lacková. Dieser Film bietet eine Insiderperspektive, die ethische und politische Themen behandelt, sie jedoch zugleich auf eine individuelle Ebene herunterbricht. Die Dokumentation ist gleichzeitig unerbittlich, schmerzlich, schön und empowernd.
Durch ihre Arbeit gibt Vera Lacková nicht nur der Roma-Community eine Stimme, sondern schafft es auch, die kulturelle und historische Bedeutung ihrer Geschichten einem breiteren Publikum zugänglich zu machen.
Ihr seid neugierig geworden und wollte mehr über diese künstlerischen Positionen erfahren? Viele der Werke dieser Künstler:innen, darunter Małgorzata Mirga-Tas, Luna De Rosa und Vera Lacková, sind aktuell und noch bis zum 2. Februar in der Ausstellung des LWL-Museums für Kunst und Kultur in Münster zu sehen. Diese Ausstellung stellt die Werke von Otto Mueller denen, der Künstlerinnen entgegen und schafft somit einen wichtigen Raum, um ihre Perspektiven, Geschichten und Visionen einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
Wir wünschen Euch viel Spaß beim Erkunden!
Anjelika & Karina