Die Entdeckung der Langsamkeit. KUNST + nachgefragt mit Christine Wassermann.

Christine Wassermann, 30.07.2010, Still 001.

Christine Wassermann, 30.07.2010, Still 001.

„Aber was will der Künstler uns damit sagen?!“, gehört zu den wohl am häufigsten gestellten Fragen im Museum. Eine eindeutige Antwort ist nun selten möglich. Nur wenige Künstler:innen hinterlassen schriftliche Äußerungen zu ihrem Werk. Alles andere ist und bleibt eine Interpretation. Die der Fachleute oder auch der Betrachtenden.

Machen wir uns nichts vor: im Museum sieht man meistens Präsentationen von Künstler:innen, die vor langer Zeit verstorben sind. Manchmal sind es tatsächlich lebende Kunstschaffende, doch oft sind sie bereits hoch betagt, beschäftigt und/oder gerade nicht vor Ort. Das bedeutet für uns, wir bekommen äußerst selten eine Möglichkeit mit über ihr künstlerisches Schaffen zu sprechen.

Schade, denn wir hätten so viele Fragen, die wir ihnen stellen würden. Geht es Euch auch so? Dachten wir schon!

In unserer Reihe KUNST + nachgefragt treffen wir spannenden Künstlern:innen, die sich bereit erklärten unsere (und Eure!)  Fragen zu beantworten. Wir sprechen mit ihnen über Gott und die Welt, aber vor allem ihre Kunst.

Sie erzählen, wir hören zu und stellen Fragen. Das was bei raus kommt möchten wir mit euch teilen.


Unsere nächste Gesprächspartnerin ist eine außergewöhnliche, in Kassel lebende Künstlerin, die sich durch das scheinbar Unscheinbare inspirieren lässt und die Schönheit der Monotonie sichtbar macht. Christine Wassermann, die aus Neu-Ulm nach Kassel kam, um zu studieren und anschließend hierblieb. Warum sie sich für Kassel entschied und was sie damals und heute bewegt und inspiriert – darüber und über vieles mehr sprachen wir mit Christine.

 

K: Liebe Christine, vielen Dank, dass Du Dir die Zeit genommen hast. Das wertvollste sowie auch das knappste Gut – die Zeit. Und wer sonst, wenn nicht Du, könnte zu diesem Thema so wunderbare, künstlerische Antworten geben. Das ist doch seit Langem genau „Dein“ Thema, oder?

Christine: Ja, das stimmt. Das kam allmählich und entwickelte sich zu einem der Grundthemen für mich. Angefangen hat es bereits während des Studiums. Das Flüchtige, Vergängliche, Nicht-Fassbare hat mich von Anfang an fasziniert. Ich habe während des Studiums angefangen täglich(!) Abformungen von meinem Gesicht und Körper anzufertigen. Eine Art Tagebuch sozusagen. Ein sich täglich veränderbarer Abdruck von meiner physischen Hülle, eine Spur von meinem Körper, als „Bestätigung“ meiner Existenz.

K: Das hört sich unglaublich spannend und nach einer Tiefe an, die für eine bestimmte Reife spricht. War diese Tiefe Dir vom Anfang an eigen? Erzähl uns doch wie alles angefangen hat. Wie bist Du überhaupt zur Kunst gekommen?

Christine: Ich wusste ziemlich früh, dass ich Kunst studieren wollte. Hessen war für mich die erste Wahl, weil die damalige Schulpolitik dort mir zusagte. Allerdings habe ich mich nicht getraut, mich für die Freie Kunst zu bewerben. Also habe zunächst Kunst und Sachunterricht auf Lehramt studiert.  Bernhard Balkenhohl war für mich damals prägend. Ich habe zunächst das klassische Zeichen gelernt (sehr akribisch). Von Michael Evers lernte ich verschiedenen Techniken, u.a. Blindzeichen.  Irgendwann traute ich es mir zu und bewarb mich für den Studiengang Freie Kunst.

K: Und Du wurdest angenommen?

Christine: Ja, ich studierte bildende Kunst an der HbK Kassel bei Dorothee von Windheim und Urs Lüthi.

K: Wie ging es mit Deiner Künstlerischen Entwicklung weiter?

Christine: Dann kam die Auseinandersetzung mit der Farbe. Es gibt für mich keine Malerei per se. Es ist immer eine Art Forschung, Untersuchung, eine Auseinandersetzung mit der Substanz. Ich würde nicht sagen „ich male ein Bild“, sondern „ich untersuche die Farbe“. Ein Grau ist nicht gleich ein Grau und ein Blau ist es auch nicht. Wie ein Farbton entsteht finde ich immer faszinierend. In der Zeit begann ich die Zweidimensionalität der Leinwand zu verlassen und experimentierte mit anderen Medien wie bereits erwähnten Abformungen von Körper und Gesicht. Zu dem Zeitpunkt meiner ersten Ausstellung im Jahr 1996 entstand das Konzept Grundregale. Die Ausstellung fand in Ulm statt und hieß Grundbestandteile. Sie zeigte u.a. meine Arbeit Grundregale, 1995/56 – archiviert mit Eingegangen-Stempel datierte Bestandteile meines künstlerischen Produktionsprozesses.

Aus der Idee Grundregale heraus entstand die nächste Arbeit – Zeitschränke 1996 -99.

K: Zeitschränke?

Christine: Diese Arbeit lagert und zeigt Gegenstände, die ich im Zeitraum 1996 bis 99 gefunden und zu Bestandteilen meines Material-Depots erklärt habe. Jeder Schrank stand für ein bestimmtes Jahr, in jeder Abteilung befinden sich Dinge, die mir in dem Jahr wichtig waren wie z. Bsp. Eimer mit bestimmter Farbe oder ein Zugfahrplan, weil mein Freund und ich an verschiedenen Orten lebten und pendelten. Diese Arbeit wurde von dem Kunstverein Schwerte (1999) gezeigt. Die Ausstellung hieß Zeiträume.

K: Ah! Damals taucht der Begriff Zeit schon auf.

Christine: Ja, das stimmt. Und ein Teil dieser Arbeit ist bis heute im Art Garten Niederuff zu sehen. Das ist der Schrank 1997, der zwei Jahre nach der Ausstellung der Arbeit entnommen und dorthin gesetzt wurde.

K: Das klingt interessant! Wie ging es weiter?

Parallel zu Zeitschränke entstand die Arbeit Die Arbeit Tafel-Einstellungen 1998/99, die wie auch Grundregale in der Schwerte Ausstellung zu sehen war.

Dafür habe ich die Zeittafeln vorbereitet. Ganz normale kleinen Hartfaserplatten (A3 Format), die ich mit Farbe grundiert habe.  Meine Idee bestand darin, dass die Menschen, die mir wichtig waren, eine Woche lang darauf notieren was ihnen besonders wichtig war.  Die Tafeln wurden von mir verpackt in die Ausstellung gebracht und erst dort ausgepackt.

K: Spannend! Liebe Christine, Du bist aber heute vor allem als Video-Künstlerin bekannt.  Wann hast Du das Medium für Dich entdeckt?

Christine: Das passierte gleichzeitig zu den obengenannten Projekten. Mein erstes Video entstand im tiefsten Winter, als mein Freund und ich in Allgäu waren. Der Lauf mit den Schneeschuhen war extrem langsam und fühlte sich für mich fast wie Bären im Schnee an. Mit meiner Kamera habe ich aufgenommen wie mein Freund Schritt für Schritt vor mir lief und auch das Geräusch dazu.  Ein andermal beobachtete ich, wie mein Freund die Straße mit einem Besen fegte und nahm es auf.  An einem anderen Tag war das die Situation in der Waschstraße, wenn man mit dem hindurch Auto durchfährt.

K: Wieso findest Du so etwas wie das Fegen oder Autowäsche spannend? Für die meisten ist es eher der (manchmal lästige) Alltag, ja eine Banalität. Wie z.B. der allmorgendliche Blick in den Spiegel, den Du Tag für Tag mit Deiner Kamera filmst. Du hältst die Zeit im wahren Sinne des Wortes an.  Was ist Deine Intention?

Christine: Mich fasziniert die Kontinuität der gleichmäßigen, sich wiederholenden Bewegung.  Meine Arbeiten entstehen intuitiv, wie das mit dem beschlagenen Spiegel bei der morgendlichen Routine. Ich habe über längeren Zeitraum jeden Morgen im Bad gefilmt, wie der beschlagene Spiegel langsam klar wurde. Irgendwann habe ich aufgehört den Aufnahmen einen Titel zu geben, und notierte nur das Datum. 

K: Aber auch auf Reisen ziehen Dich keine spektakulären Ereignisse an, oder? Wir können uns an eine wunderschöne Arbeitsserie von Dir erinnern, die bei einem Aufenthalt in Berlin entstand

Christine: Ja, das stimmt. Ich hielt mich damals stundenlang an der Spree auf und beobachtete Passanten, die sich auf der überquerenden Brücke bewegten. Ich hielt diese Durchgangsituation mit meiner besonderen Kamera fest, die über eine Hochgeschwindigkeitsfunktion verfügt und 300 Bilder pro Sekunde(!) aufnimmt.  Normalerweise werden Videofilme mit 30 Bildern pro Sekunde gedreht. Für die Wiedergabe dieser Videos bedeutet das, dass die aufgenommenen Sequenzen zehnfach verlangsamt werden.

K: Als Filmergebnis entstanden Bilder, die sich bei genauem Hinsehen, bewegen. Das was wir kaum wahrnehmen und an dem wir vorbeirasen, machst Du zum Gegenstand deiner Arbeit. Warum schenken wir dem nur so geringe bis gar keine Aufmerksamkeit? Vor deinen Arbeiten bleiben wir dennoch, wie gebannt, stehen. Warum?

Christine: Das ist durchaus erklärbar. Das menschliche Auge kann vieles unter normalen Umständen nicht wahrnehmen. Es wird erst durch die Verlangsamung auf einmal sichtbar.  Daher bleibt man davor stehen und schaut genau hin. Die kürzeste Dauer menschlicher Wahrnehmung ist der Moment.

Durch die Hochgeschwindigkeitsfunktion der Kamera kann man den Moment sozusagen “ausdehnen“ oder „zerlegen“. Dabei fällt alles Überflüssige weg und das Wesentliche bleibt über. Die Bewegung und das Licht.

Meine Geschichten haben weder einen Anfang noch ein Ende, ihnen liegt eine offene Erzählstruktur zugrunde.

K: Schön… Und das macht etwas mit uns – den immer Eiligen. Deine Arbeiten veranlassen uns dazu, kurz inne zu halten und verschaffen uns die so seltenen ästhetischen Atempausen. Dafür danken wir Dir, liebe Christine!

Zum Ende haben wir noch drei Fragen an Dich.

Gibt es eine Aussage oder Frage in Bezug auf deine Kunst, die Du nicht mehr hören kannst?

Christine: Kann man damit Geld verdienen?

K: Das kommt uns bekannt vor. Wenn Du Dir einen Künstler oder eine Künstlerin aussuchen könntest, neben dem dein Werk hängen könnte, wer wäre es?

Christine: Mehrere Namen fallen mir dazu ein. Jackson Pollok, Yves Klein, zeitgenössische Künstler wären der Videokünstler Bill Viola und der Konzeptkünstler On Kawara.

 

K: Und die letzte Frage. Bitte vervollständige den Satz: Kunst bedeutet für mich….

Christine: Einen Forschungs-Prozess, in dem ich mich immer wieder aufs Neue meiner Existenz versichere.

 

K: Wir danken dir für deine Zeit und deine Offenheit.

 

 Näheres zur Künstlerin finden Sie auf hier.

 

Kunst und Kaviar