Mehr Demut statt Demos
Es gibt Themen in der bildenden Kunst, die beliebt sind. Diese werden rauf und runter, von Generation zur Generation, immer wieder neu aufgerollt, zeitgemäß interpretiert und dargestellt. Religiöse, mythologische, literarische, sowie Themen aus dem Alltag und der Politik.
Doch dann gibt es solche Themen, an die sich Künstler:innen sich nur selten herantrauen. Sie sind so groß, so voller Emotionen, dass sie sich in ihrer Komplexität kaum festhalten lassen. „Vergebung“ ist eins dieser Themen.
Es gibt nur wenige Kunstschaffende, die sich in ihrem Werk damit auseinandersetzen. Wie denn auch? Wie stellt man „Vergebung“ dar? Bis heute gibt es nicht mal eine allgemein anerkannte wissenschaftliche Definition für diesen Begriff. Es gibt aber Geschichten, genauer genommen sind es Gleichnisse, die im Neuen Testament zu finden sind. Wenn es um etwas geht, was sich nur schwer erklären lässt, ist ein Gleichnis hilfreich. Eine bildhafte, kurze Erzählung, die Abstraktes anschaulicher macht.
Eine der bekanntesten dieser Erzählungen ist wohl, „Das Gleichnis vom verlorenen Sohn“. Es ist im Lukasevangelium nachzulesen und wird dort von Jesus selbst erzählt.
Die Geschichte an sich ist einfach sowie auch zeit- und ortsungebunden. Ein Vater hat zwei Söhne. Der Ältere ist so, wie der Vater es sich wünscht. Er ist fleißig, fromm und vor allem gehorsam. Der Jüngere ist genau das Gegenteil seines Bruders. Er möchte sein Erbe ausgezahlt haben und in die weite Welt hinausziehen. Wie es weitergeht, können wir uns denken. Während der Ältere schwer arbeitet, um den gemeinsamen Familienbesitz zu mehren, feiert sein Bruder ununterbrochen Feste und schmeißt das väterliche Geld aus dem Fenster, bis keins mehr da ist. Kein Geld, keine Freunde und kein Dach über dem Kopf. Nach kurzem Hin und Her kehrt er hungrig und reumütig nach Hause zurück. So weit, so gut, dies hätte auch gestern oder heute passieren können. Eine Geschichte aus dem Leben.
Und jetzt kommt das Einzigartige und Besondere an dieser Geschichte. Der Vater jagt seinen gefallenen, gescheiterten und am Boden zerstörten Sohn NICHT fort. Er macht ihm KEINE Vorwürfe, es gibt kein Tadeln, kein „Du hast schon wieder versagt“, kein „Ich wusste, dass es so kommen wird!“. NICHTS DAVON. Er nimmt ihn auf, hilft ihm wieder hoch, gibt ihm Nahrung, Kleidung, Obdach und das Wichtigste vor allem – seine bedingungslose Liebe.
Nach allem was geschehen ist, vergibt er seinem Kind dessen durch und durch menschliche Unvollkommenheit. Die Frage nach Sünde und Schuld gibt es für den liebenden Vater nicht.
Rembrandt Harmensz van Rijn (1606 – 1669) war einer der wenigen, der sich zeit seines Lebens lieber mit den „Antihelden“ befasste. Während seine Malerkollegen die Taten des, im Barock sehr beliebten Herkules darstellten, malte er Themen wie „Judas bringt die 30 Silberlinge zurück“, „Jacobs Segen“ und schließlich das mit dem Titel „Die Rückkehr des verlorenen Sohnes“.
Das großformatige Ölgemälde, das heute in Ermitage in St. Petersburg zu bewundern ist, malte Rembrandt in seinem letzten Lebensjahr fertig. In jener Zeit, in der er alle Menschen, die er liebte, verlor. Seine Frau Saskia, seine Lebensgefährtin Hendrikje und auch seinen einzigen Sohn Titus, der keine 27 Jahre alt wurde.
Die Dargestellten sind so groß wie wir, das Gemälde misst 260 × 203 cm, eine Szene der Rückkehr. Der vor dem Vater kniende Sohn, der fast blinde Vater, der sich zu dem Sohn herabneigt und ihn zärtlich berührt. Die Augen des Alten sind halb geschlossen und scheinen nach innen statt nach außen zu sehen. Rembrandt malte immer wieder Menschen, die entweder fast erblindet sind oder geblendet werden. Die Frage nach dem Verhältnis von Sehen und Erkennen zieht sich wie ein roter Faden durch sein Werk. Ist das, was ich sehe die Wahrheit? Bereits zu seinen Lebzeiten war Rembrandt dafür berühmt, dass er tiefe Emotionen sowie auch komplexe psychische Zustände darzustellen vermochte. Das tiefe Licht scheint von innen nach außen zu kommen und entspricht der emotionalen Tiefe des Geschehen. Vergebung ähnelt dem Licht im Rembrandts Werk. Sie kommt von innen. Sie ist nicht laut, sondern still.
Warum tun wir uns so schwer damit, jemandem und vor allem uns selbst, zu vergeben? Warum halten wir keine Stille aus? Nicht mal in der „Stillen Nacht“? Und obwohl Vergebung in den meisten Religionen eine wichtige Rolle spielt, wird öfter von Vergeltung als von Vergebung gesprochen. Geht es nicht darum die Gemeinsamkeiten zu finden, anstatt auf den Unterschieden zu beharren? Man sollte meinen, dass wir aus der Geschichte der Kreuzzüge, Verfolgung und Ausgrenzung gelernt haben. Ein Blick in die Nachrichten beweist das Gegenteil.
Vielleicht sollten wir am Ende dieses so bewegten Jahres unseren Blick nach innen richten?
Vielleicht würde uns etwas mehr Demut und weniger Demos im Bezug auf bestimmte Themen guttun?
Zum Jahresende wird es Zeit uns und den Menschen um uns zu vergeben. Den Politiker:innen für Entscheidungen, die uns beeinflusst aber geschützt haben. Dem Nachbarn, der seinen Standpunkt nicht aufgibt und jeden Dialog unmöglich macht. Der Familie, die in diesem Jahr an ihre Grenzen gebracht wurde. Doch vor Allem sollten wir uns selbst vergeben.
Vergebung ist eine enorme Kraft und wir können alle neue Energie für das kommende Jahr gebrauchen.
Wir wünschen Euch und euren Familien einen guten Jahreswechsel.
Anjelika & Karina